Liebe Gemeinde,
meine Predigt trägt die Überschrift: Ein Briefwechsel
Lieber Jakob,
mir geht es nicht gut. Ich will gar nicht lange herumreden. Ich war wieder beim Arzt. Es ist ein Tumor. Bösartig. Die Nachricht hat mich wie ein Keulenschlag getroffen. Ich fühle mich wie zerbrochen. Meine Gedanken rasen wild durcheinander:
Was steht mir bevor? Wie lange muss ich ins Krankenhaus? Werde ich zum Pflegefall? Werde ich Schmerzen haben?
Aber dann kreisen meine Gedanken noch um eine andere Frage: Wieso ich? Warum? Warum jetzt? Muss ich für irgendetwas bezahlen? Wofür? Wer steckt dahinter? Bin ich selber schuld?
Ich bin so unruhig. Ich habe Angst.
Dein H.
Glücklich zu preisen ist der, der standhaft bleibt, wenn sein Glaube auf die Probe gestellt wird.
Lieber Jakob,
ja, ich fühle mich tatsächlich wie auf die Probe gestellt. Alles gerät ins Wanken. Alles, was mir bisher etwas bedeutet hat, was mir Sicherheit und Schutz gab, hat sich aufgelöst. Aber glücklich- ? , nein, glücklich bin ich nicht. Und du weißt es. Ich bin so verzweifelt, dass ich gar nicht mehr weiß, was ich tun soll, wem ich noch trauen kann und wem nicht. Alle Maßstäbe, die es einmal gab, haben ihre Bedeutung verloren. Ich werde nie wieder glücklich sein.
Glücklich zu preisen ist der, der standhaft bleibt, wenn sein Glaube auf die Probe gestellt wird. Denn nachdem er sich bewährt hat, wird er als Siegeskranz das ewige Leben erhalten, wie der Herr es denen zugesagt hat, die ihn lieben.
Lieber Jakob,
Du sprichst in Rätselworten. Antwortest du eigentlich auf meine Fragen? Hörst du meine Verzweiflung? Schreibst du überhaupt an mich?
Ich gebe zu, Deine Rätselworte lenken mich ab. Ich schaffe es, ein wenig von mir abzurücken und dir zuzuhören. Einen Siegeskranz musst du mir nicht versprechen. Das finde ich albern. Und auch das ewige Leben brauche ich nicht. Ich will einfach nur leben, nicht ewig, aber jetzt, ohne diese Qualen.
Ich frage mich, hat diese Probe, auf die ich gestellt werde, hat sie vielleicht einen Sinn? Soll ich lernen, besser zu verstehen, woran ich mich halten kann im Leben und eigentlich auch im Sterben? Noch kann ich das nicht, vielleicht irgendwann.
Aber warum? Die Frage lässt mich nicht los. Warum werde ich so gequält? Wer quält mich so? Jakob, wer? Wer ist schuld?
Doch wenn jemand in Versuchung gerät, soll er nicht sagen: Es ist Gott, der mich in Versuchung führt! Denn so wenig Gott selbst zu etwas Bösem verführt werden kann, so wenig verführt er seinerseits jemand dazu.
Lieber Jakob,
du versicherst mir: alles, was mir Antworten und Halt in meinem Leben bisher gegeben hat, ist nicht der Grund für meine Qual. Ich danke dir für dieses Wort. Aber noch weiß ich nicht, ob es die Kraft hat, mich zu beruhigen. Denn die Fragen bleiben: Warum werde ich so gequält? Wer tut das? Wer ist schuld?
Wenn jemand in die Versuchung gerät, ist es seine eigene Begierde, die ihn reizt und in die Falle lockt. Nachdem die Begierde dann schwanger geworden ist, bringt sie die Sünde zur Welt; die Sünde aber, wenn sie ausgewachsen ist, gebiert den Tod.
Lieber Jakob,
wenn du nicht mein bester Freund wärst, würde ich jetzt deinen Brief zerreißen. Du meinst ich bin selber schuld, dass es mir so elend geht? Ich bin selber schuld, dass ich den Boden unter den Füßen verliere und sterben werde? Und du meinst, das hat mit meiner Gier zu tun? Bist du übergeschnappt?
Jakob, ich bin traurig. Ich dachte immer, du würdest mich verstehen und könntest mir helfen. Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.
Weil du es bist, reiße ich mich noch einmal zusammen. Was könntest du mit deiner Rätselsprache, die so hart und vorwurfsvoll und verletzend klingt, gemeint haben?
Ich spüre tatsächlich eine Gier in mir. Die Gier, jemanden schuldig zu sprechen. Ich will eine Antwort auf meine Frage: Wer trägt die Verantwortung? Ich muss darauf eine Antwort finden! Ich muss ein Urteil sprechen.
Aber vielleicht hast du Recht und das ist eine Falle. Ich verstricke mich in diese Frage so sehr, dass ich gar nicht mehr von ihr loskomme. Ich merke wie ich Sündenböcke suche, wie ich Menschen und Umstände zu Unrecht beschuldige. Wer weiß, was aus dieser Verbissenheit noch entsteht? Ich werde anderen schaden, ich werde mich selber zermürben und verzehren, viel tiefer als der Tumor es tut.
Wolltest du mich darauf aufmerksam machen? Dass es keine Antwort auf diese Frage gibt? Niemand ist schuld an meiner Krankheit! Die Gier, einen Schuldigen zu finden, ist in mir selber gewachsen.
Von oben kommen nur gute Gaben und nur vollkommene Geschenke; sie kommen vom Schöpfer der Gestirne, der sich nicht ändert und bei dem es keinen Wechsel von Licht zu Finsternis gibt. Seinem Plan entsprechend hat er durch die Botschaft der Wahrheit neues Leben in uns hervorgebracht, damit wir – bildlich gesprochen – unter allen seinen Geschöpfen eine ‚ihm geweihte‘ Erstlingsgabe sind.
Lieber Jakob,
ich danke dir. Du hilfst mir meinen Halt und meine Sicherheit wieder zu spüren. Du hilfst mir, neue Antworten zu finde. Ich lerne, mich auf das zu besinnen, was mir Kraft gibt. Es tut gut zu hören, dass auch ich gemeint bin, dass auch ich eine Gabe, ein Geschenk, sein darf. Es tut gut zu hören, dass bei all meinem Chaos im Körper und im Kopf das große Ganze sich nicht ändern wird. Ich wünsche mir, dass auch ich ein neues Leben in meinem kranken Leben finden darf.
Vielleicht kann ich irgendwann einstimmen und sagen: ich bin glücklich, dass ich auf die Probe gestellt wurde.
Danke Jakob.
Amen
Predigt zu Hebräer 11,8-12
8 Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, in ein Land zu ziehen, das er erben sollte; und er zog aus und wusste nicht, wo er hinkäme.
9 Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen in dem verheißenen Lande wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung.
10 Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.
11 Durch den Glauben empfing auch Sara, die unfruchtbar war, Kraft, Nachkommen hervorzubringen trotz ihres Alters; denn sie hielt den für treu, der es verheißen hatte.
12 Darum sind auch von dem einen, dessen Kraft schon erstorben war, so viele gezeugt worden wie die Sterne am Himmel und wie der Sand am Ufer des Meeres, der unzählbar ist.
I.
Er stand vor dem Zelt. Denn er brauchte jetzt frische Luft. Die ganze Nacht hatte er an ihrem
Lager gesessen, ihre Hand gehalten und war bei ihr. Und in den frühen Morgenstunden war
er dann ganz allein. Der Weg war zu Ende, den sie beide miteinander gegangen waren. Noch
einmal sah er auf ihr stilles Gesicht, wie sie da lag im Dämmer des Zeltes. So klar und ruhig.
Ihr Gesicht. Es war, als liefe ihr ganzes Leben noch einmal an ihm vorbei. Sara, seine Frau. Sie
hatte sich mit ihm auf den Weg gemacht, damals. Sie war mit ihm zusammen aufgebrochen
und ausgewandert, genauso mutig, genauso voller Vertrauen. Sie beide hatten das große
Versprechen gehört: Land und Kinder. Das hatte sie da berührt, wo ihre Wünsche saßen.
Denn sie lebten ja in Zelten, immer schon, immer unterwegs. Und sie waren, anders als all
die anderen, immer nur zu zweit.
Land und Kinder für sie beide. Was für ein Versprechen. Wie ein Glanz legte es sich auf Saras
Gesicht und die Jahre ohne Hoffnung waren nicht mehr zu sehen darin.
Aber er erinnerte sich auch noch an ihr Gesicht, damals, als ihm die Zeit zu lang wurde und er nicht mehr warten mochte, bis sich einstellte, was ihnen versprochen war. Als er die jüngere Frau nahm und mit ihr ein Kind zeugte. Sara hatte ihm ja dazu geraten. Aber dann hatte sie doch das Gesicht abgewandt, als er ihr von der Schwangerschaft berichtete. Ihr Gesicht, voller Schmerz und Scham über ihr Lebensschicksal.
Aber das Versprechen war größer als alles, was sie beide sich vorstellen konnten. Wieder sah er Saras Gesicht vor sich, so alt und müde von all den Jahren des Wartens und nun auch erschöpft von der Geburt. Er sah ihre Falten und daran geschmiegt die zarte Wange ihres neugeborenen Sohnes. Hier in diesem Zelt war das gewesen, dort, wo sie jetzt lag. Ist denn irgend etwas unmöglich für den Herrn? Nein, mussten sie beide zugeben. Nein, ist es nicht. Saras Gesicht. Über die Jahre und Jahrzehnte war es ein Spiegel dessen, was ihm und was ihr widerfahren war. Auch die Angst in ihren Augen hatte er nie vergessen, als er damals aufbrechen musste mit dem Holz für das Brandopfer und dem Messer in der Hand, ganz allein mit seinem einzigen Kind, bereit, es zu opfern.
Geh nicht, hatten ihre Augen gefleht, das kann nicht gemeint sein. Wir haben doch Kinder
versprochen bekommen. Wer nimmt so seine Versprechen zurück?
Ihren Blick spürte er im Rücken, bis sie ihn aus den Augen verloren hatte. Und sie kam ihm
entgegengelaufen, als er dann mit ihrem Sohn an der Hand zurückkehrte, ihrem Kind, heil
und unversehrt, voller Leben und Zukunft. Und Saras Gesicht ein einziges Lachen.
Nun war sie gestorben. Das stille Gesicht kein Spiegel mehr und keine Antwort darin. Ein gemeinsamer Weg und ein Ende. Als er aus dem Zelt getreten war, hatte er nach oben gesehen, so wie immer, wenn er aus dem Dämmer und der Enge nach draußen kam. Früh am Morgen, noch kühl und schon der Anflug des neuen Tages. Die Sterne verblassten gerade am Himmel.
„Sieh gen Himmel und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? So zahlreich sollen deine Nachkommen sein.“ Das war das Versprechen. Und davon war noch nicht viel zu sehen.
II.
Die Geschichte Saras und Abrahams. Mit schnellen Strichen ist sie gezeichnet, nur kurz werden
die Namen genannt. Wir müssen uns hineindenken in ihre Geschichte, uns erinnern, die
schnellen Striche ausmalen zu einem Bild mit mehr Details. Die Höhen und die Tiefen dieses
Lebens sind in dieser Lebensskizze nicht genau zu sehen.
Ob es überhaupt gelingen kann, so von einem Leben zu erzählen, dass man sehen kann, was
Menschen bewegt hat, was ihnen Hoffnung gab, was sie verzweifeln ließ, was sie sich gewünscht
haben und woran sie gescheitert sind? Immer nur eine Skizze ist der Blick auf ein
Menschenleben. Auch der Blick auf das Leben Abrahams und Saras.
Aber alle diese Menschengeschichten sind miteinander verbunden: Durch den Glauben. Und
wenn ich sie erzähle, wird mir klar, was glauben bedeutet.
Das Große Wort Glauben bleibt kein Begriff. Es wird zu einem Verb.
Gut für mich, weil ich ohne große Worte predigen will.
Gut, weil ich sehen kann, was es heißt, zu glauben:
Weil Sara und Abraham glauben, verlassen sie ihre Heimat
und machen sich auf den Weg in das verheißene Land.
Weil Sara und Abraham glauben, müssen sie viel Geduld haben.
Weil Sara und Abraham glauben, werden sie dann doch noch Eltern,
gegen alle Wahrscheinlichkeit und menschliche Möglichkeit.
Und weil sie glauben, könnten sie dieses Kind wieder hergeben,
auch wenn sie nicht verstehen, warum das von ihnen verlangt wird.
Weil Sara und Abraham glauben, wohnen sie in Zelten ihr Leben lang
und hoffen immer weiter auf eine Heimat, in der sie bleiben können.
Mit Vernunft hat das alles nicht viel zu tun.
Aber mit Vertrauen.
So ist es, wenn Menschen glauben.
Es geht nicht um Argumente. Es geht nie um Argumente.
Glauben ist vertrauen.
Wenig zuverlässige Erkenntnis, viel herzliches Vertrauen.1
Damit fängt ein Mensch zu glauben an.
Aber die, die glauben können, die brauchen dann noch mehr Vertrauen als alle anderen. So
wie Abraham. Er steht vor dem Zelt. Über ihm öffnet sich der Himmel und er sieht die Sterne,
wie jedes Mal, wenn er aus dem Dämmer und der Enge nach draußen kommt.
Manchmal funkeln sie hell, so wie in der Nacht, als sein Sohn geboren wurde. Manchmal
verblassen sie, so wie an diesem Morgen, als Sara gegangen ist für immer.
Und immer spürt er: Der Boden unter meinen Füßen, der gehört mir nicht. Und das Kind, das
ich habe – von seiner Zukunft weiß ich nichts. Land und Kinder. Wie weit weg bin ich noch
von dem großen Versprechen.
Abraham und Sara. „Diese alle sind gestorben im Glauben und haben das Verheißene nicht
erlangt, sondern es nur von ferne gesehen und gegrüßt und haben bekannt, dass sie Gäste und
Fremdlinge auf Erden sind.“ (Hebr 11,13)
Glauben heißt vertrauen.
Und mit einem Versprechen zu leben.
Näher oder weiter entfernt davon, dass es sich erfüllt.
Und weit entfernt davon, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu können.
An Saras und Abrahams Geschichte ist auch zu sehen, was geschehen kann, wenn Menschen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Wenn sie versuchen, zu erzwingen, was sie sich erhoffen an Lebensträumen und Lebensglück. Die Dinge geraten aus dem Lot, sie haben Folgen und schaffen Wirklichkeiten, die nicht mehr einzuholen sind. Und statt Glück ist da Schmerz und Scham und Schuld. So war es mit Abraham und Sara und der jüngeren Frau und dem Kind.
Glauben heißt, mit einem Versprechen zu leben.
Näher oder weiter entfernt davon, dass es sich erfüllt.
Und weit entfernt davon, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu können.
Das, was wir uns so sehr wünschen, das sehen wir manchmal nur von ferne und winken ihm zu. So wie ich einem Fremden auf der Straße freundlich zunicke, den ich niemals wieder sehen werde mein Leben lang.
So ist das auch in meinem Leben. Von meinen Höhen und Tiefen, davon weiß doch kein
Mensch. Eine Skizze ist selbst mein eigener Blick auf mein Leben. Eine Skizze, mehr nicht.
Wer weiß, was einmal davon zu erzählen sein wird.
Und so ist das auch mit meinem Glauben.
Und doch gehe ich weiter und bleibe nicht stehen.
Denn da ist das Versprechen, dass es einmal, am Ende, irgendwann,
nicht mehr nur das Zelt sein wird,
sondern das Haus und die Stadt, in der ich bleiben kann.
Abraham ist aufgestanden und aus dem Zelt gegangen, als Sara gestorben war. Vor dem Zelt hat er die Sterne gesehen, die am Himmel verblassten. Und dann hat er zwei Dinge getan. Er hat ein Grab für Sara gekauft in Machpela bei Hebron. Ein Grab im fremden Land. Und das ist das einzige Stück, das ihm von dem versprochenen Land jemals wirklich gehören wird. Danach hat er seinen Knecht losgeschickt, in die alte Heimat, um endlich eine Frau zu suchen für seinen Sohn. Eine Frau und dann vielleicht ein Kind und Leben und Zukunft.
Vor dem Zelt stehen wir. Und erinnern uns.
Über uns der Himmel und die Sterne.
In uns eine feste Zuversicht auf das, was wir hoffen.
Ein Nicht-Zweifeln an dem, was wir nicht sehen.2
Glauben ist ein Grab in einem fremden Land.
Glauben ist weitergehen.
Wie nach Hause.
Amen.
Liebe Gemeinde,
„Wir können ab dem Moment vom ‚Menschen’ sprechen, als er begonnen hat sich aufzurichten. … Der vielleicht wichtigste und nachhaltigste Effekt der vertikalen Neuorganisation des menschlichen Organismus ist eine veränderte Optik: Wer steht, kann weiter sehen.“ 1 Das sagt die Anthropologie. Wer stehen kann, braucht Kraft in den Beinen, in den Knien. Stehen, sich hinstellen, will erlernt sein. Alle streben nach oben, nicht nur der Optik wegen. Solange wir leben, wollen wir – morgens vielleicht manchmal etwas länger – aber auf keinen Fall dauernd liegen bleiben. Wie kommen Menschen auf die Beine, wenn ihnen der Schreck in die Glieder fährt? Was richtet sie auf, wenn der Widerstand gegen die Gravitationskraft ermattet, wenn Ereignisse, Mächte und Gestalten am Boden halten?
Das erste Wort, das die Bibel von Elia, aus Tischbe in der ostjordanischen Landschaft Gilead erzählt, ist ein Wort der Konfrontation gegenüber dem Regenten Ahab: „So wahr der Ewige, die Gottheit Israels lebt, vor der und für die ich stehe: Es wird in diesen Jahren keinen Tau und keinen Regen geben – außer auf mein Wort hin.“ (1Kön 17,1) In den Augen Achabs war das eine ungeheure Provokation, denn Elia beansprucht nichts weniger als die Deutungshoheit der Religion über die Politik – hier in der Gestalt der Frage, wer für die Klimakatastrophe der Dürre im Lande verantwortlich ist. König Ahab – so die Erzähler der Elia-Geschichte – hatte sich Isebel, eine phönizische Verbündete im Kampf gegen die assyrische Großmacht, zur Frau genommen und mit ihr deren Wetter- und Fruchtbarkeitsgottheit Baal in die Staatsreligion integriert, wörtlich „sich vor ihm gebeugt“ (1.Kön 16,31). „Stehen/Sich stellen“ oder „sich beugen“ – der Tischbiter war in dieser Frage unerbittlich und es folgt die blutige Auseinandersetzung auf dem Berg Karmel, an deren Ende Elia alle Baalspriester Isebels umbringt. Dann heißt es in 1. Buch der Könige, Kap. 19, Verse 1-13
1 Und Achab berichtete Isebel alles, was Elija getan hatte und wie er alle Propheten mit dem Schwert umgebracht hatte.
2 Da sandte Isebel einen Boten zu Elija und sprach: Die Götter sollen mir antun, was immer sie wollen - morgen um diese Zeit werde ich dich so zurichten, dass du wie einer von ihnen bist.
3 Und als er das sah, machte er sich auf und lief um sein Leben. Und er kam nach Beer-Scheba, das zu Juda gehört, und dort ließ er seinen Burschen zurück,
4 er selbst aber ging in die Wüste, eine Tagesreise weit. Und als er dort war, setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod, und er sprach: Es ist genug, HERR, nimm nun mein Leben, denn ich bin nicht besser als meine Vorfahren.
5 Dann legte er sich hin, und unter einem Ginsterstrauch schlief er ein. Aber plötzlich berührte ihn ein Bote und sprach zu ihm: Steh auf, iss!
6 Und als er hinsah, sieh, da waren an seinem Kopfende ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und er ass und trank und legte sich wieder schlafen.
7 Der Bote des HERRN aber kam zum zweiten Mal und berührte ihn und sprach: Steh auf, iss, denn der Weg, der vor dir liegt, ist weit.
8 Da stand er auf und aß und trank, und durch diese Speise wieder zu Kräften gekommen, ging er vierzig Tage und vierzig Nächte lang bis zum Gottesberg Choreb.
9 Und dort kam er zu einer Höhle, und er übernachtete dort. Und sieh, da erging an ihn das Wort des HERRN, und er sprach zu ihm: Was tust du hier, Elija?
10 Und er sprach: Ich habe wahrlich geeifert für den HERRN, den Gott der Heerscharen! Denn die Israeliten haben deinen Bund verlassen, deine Altäre haben sie niedergerissen und deine Propheten haben sie mit dem Schwert umgebracht. Und ich allein bin übrig geblieben, sie aber haben danach getrachtet, mir das Leben zu nehmen.
11 Da sprach er: Geh hinaus und stell dich auf den Berg vor den HERRN! Und sieh - da ging der HERR vorüber. Und vor dem HERRN her kam ein großer und gewaltiger Sturmwind, der Berge zerriss und Felsen zerbrach, in dem Sturmwind aber war der HERR nicht. Und nach dem Sturmwind kam ein Erdbeben, in dem Erdbeben aber war der HERR nicht.
12 Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer, in dem Feuer aber war der HERR nicht. Nach dem Feuer aber kam das Flüstern eines sanften Windhauchs.
13 Als Elija das hörte, verhüllte er sein Angesicht mit seinem Mantel. Dann ging er hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle.2
Isebels Ultimatum, nach 24 Stunden Elia wie die Ba’alspriester zuzurichten, macht den Verfolger zum Verfolgten, der um sein Leben läuft. Und wir verfolgen ihn mit unseren eigenen Wahrnehmungen und Interpretationen in die Einsamkeit, bis er Schutz findet in dieser Höhle auf dem Berg. Schutz vielleicht auch davor, diese Momentaufnahme eines Wegs mit den uns bekannten spätmodernen Burnout- und Überforderungserfahrungen interpretativ kurz zu schließen, mitsamt dem Arsenal an therapeutischen Empfehlungen. Aber an Elias Händen klebt Blut und sein Weg ist keine Pilgerreise, sondern eine atemlose Flucht, die ihn in zunehmende Isolation treibt. Es reicht nicht, im judäischen Beer-Sheva dem Zugriffs Achabs und Isebels vorerst entzogen zu sein, den letzten Begleiter zurückzulassen und sich einen Tagesmarsch weit in die Wüste abzusetzen. Was ihn völlig erschöpft unter einen Ginsterstrauch kauernd den Tod herbeisehnen lässt, ist die sich zur Depression manifestierende Ahnung, nicht besser als die Ahnen zu sein. Der gewaltige Anspruch, auf ganzer Linie ein leistungsfähigerer Performer zu sein als die Vorgänger, Vorläufer oder Vorgesetzten, schlägt mit letaler Wucht um in den Selbstvorwurf, ein totaler Looser zu sein.
Die Ermattung droht in einen Todesschlaf zu fallen. Um wieder auf die Beine zu kommen braucht es Lebensmittel – aber nicht einfach als himmlisch-logistische Zuführung von Wasser und Brot, sondern für Gebeugte ist entscheidend, wie sie bekommen, was sie brauchen: mit Takt und Kontakt an Haupt und Gliedern, zugänglich für alle Sinne – nicht nur einmal, sondern wiederholt, damit sie es sehen, riechen und schmecken können. „Und durch diese Speise wieder zu Kräften gekommen, ging er vierzig Tage und vierzig Nächte lang bis zum Gottesberg Choreb.“ Ein vierzig Tage und vierzig Nächte dauernder Fastenlauf durch die Kraft dieser Speise. Die äußere Enthaltung weiterer Speise ist weniger wichtig, als das Ziel des Fastens: nämlich die Verbindung von geistlicher und körperlicher Vorbereitung auf besondere Herausforderungen. Schrittweise verändert sich der Horizont, die eigene Lage im Raum, die Wahrnehmungen und Orientierungen. Die vierzig markieren in der Bibel immer einen Neubeginn – um wieviel mehr die doppelten vierzig – Tag und Nacht. Der Prophet kommt in eine ungeheure Distanz zu seinem bisherigen Leben. Der Wendepunkt ist der Berg, in Israels Tradition der rettende Fels im Chaos von Flucht und Verfolgung.
Dort angekommen sucht Elia die Geborgenheit der Höhle. Da mag er im Sicheren sitzen und sich auch gewünscht haben, sein Leben in monastischer Abgeschiedenheit führen zu können und jene traumatischen Erlebnisse der Flucht in jener Welt zu lassen, der er entronnen war. Ein Prophet in einer Höhle mag zwar in Sicherheit sein, aber seine Aufgabe kann er nicht erfüllen. „Was tust du hier, Elia?“ Diese Stimme will den Propheten daran erinnern, in welchen Auftrag und mit welchem politischen Anspruch Elia sich gegen die Staatsmacht gestellt sah. Mit seiner eigenen Selbstauskunft geht er in dieser Höhle vor diesem Anspruch in Deckung: Ich habe über die Maßen getan was ich konnte – aber es hat nichts gebracht. Ich allein bin übrig geblieben und mein Leben ist in permanenter Gefahr.
In der Tat: Engagement – und insbesondere Politisches - bleibt immer ein Risiko: Ich kann mich nicht behaupten oder andere haben die Macht. Ich kann meine Ziele erreichen, aber wie komme ich in der Öffentlichkeit damit klar, dass sich hinterher alles als falsch herausstellt – oder die Erwartungen überzogen waren? Der Blick auf diese Desillusionierung Elias ist aber nicht das letzte Wort des Kapitels. Und es sind nicht die brausenden, alles umwerfenden und feurigen Showdowns, die Elia aus der Höhle rücken, sondern die Stimme eines „flüsternden sanften Windhauchs“ eines „wimmrigen Wehens“. Wie immer das übersetzt werden kann, Elia vernimmt diese „Stimme eines verschwebenden Schweigens“3 als stimmig mit seiner beklagenswerten Lage.
Das richtet ihn auf: „Als er das hörte, verhüllte er sein Angesicht mit seinem Mantel. Dann ging er hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle.“ Elia wird dann wiederholen, was ihn an diesen Ort gebracht hat – aber er wird zurückgehen und sich der Arbeit stellen. Woher dieser Wandel? Aus der Erfahrung, verstanden, gesehen, gehört – ja erhört worden zu sein, neue Orientierung bekommen zu haben. „Orientierung“ bedeutet aber nichts anderes, als ‚Ausrichtung nach Osten’ – zeichenhaft in den Bereich des aufbrechenden Lichts, heraus aus dem Dunkel. Ein anderer Begriff für diese vertikale Orientierung am Licht von oben, an der lebenserhaltenden Energiezufuhr vom Himmel auf die Erde heißt: Gebet.
„Beten“ gehört nicht zu den großen Worten dieser Predigtreihe. Ein späterer galiläischer Sprachgesell des gileadischen Elias unterwies die Seinen: Wenn ihr betet, macht nicht viele Worte. (Mt 6,7) Gewichtiger als die Worte ist, was man mit ihnen anstellt. Für Elia entscheidend wird das eine Wort, das sich in den Dingen, die wir vor Augen haben, nicht auflöst, sondern das unscheinbar und unspektakulär daherkommt und einem die Angst aus dem Sinn bläst.
Welche Angst? Vielleicht die typische Angst des Mannes, ohne Stärke und Gewaltanwendung nicht bestehen zu können. Das hat noch seine Zeit gebraucht, als Elia vom Horeb wieder in die Niederungen kam. Das Blutvergießen hat nicht sofort aufgehört. Aber Elia veränderte sich – langsam. Nein - keiner muss allein alles schaffen; es gibt andere, die dabei sind. Dann geht es eben mit denen weiter die da sind, sich engagieren – anders vielleicht als ein religiöser Mensch sich das wünscht oder vorstellt, aber auch religiöse Menschen sind lernfähig. Sie kennen die Methoden die man braucht um sich den Widrigkeiten des Lebens zu stellen und über den eigenen Horizont hinauszublicken: Fasten, Beten, Aufeinanderachten.
Elia hat sich verändert und er wurde verändert. In der jüdischen Tradition wird er mit Mose derjenige bleiben, der sich bis zum Ende der Tage vor sein Volk Israel stellt und für es eintritt. Elia, so erzählt die Bibel, ist als einziger von allen Propheten nicht gestorben, sondern bis heute stark und eifrig gegenwärtig.4 Nicht mehr mit Feuer und Schwert, sondern mit dem Feuer des Gebets und dem Vermögen, scheinbar unüberbrückbare Gegensätze in Beziehung zu bringen: Anspruch und Wirklichkeit, Geschichte und Gegenwart, Alte und Junge.5
Elia ist nicht in der Höhle geblieben, sondern hat sich dem Anspruch einer Gemeinschaft gestellt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass ein anderer Elias unserer Zeit, Elias Canetti, über das Stehen geschrieben hat: „Wer sich erhoben hat, steht am Ende einer gewissen Anstrengung und ist so groß, wie er überhaupt werden kann. Wer aber schon lange steht, drückt eine gewisse Widerstandskraft aus; sei es, dass er sich von seinem Platz nicht verdrängen lässt wie ein Baum, sei es, dass er ganz gesehen werden kann, ohne sich zu fürchten oder zu verbergen.“6
Amen.
Gott schenke Euch ein Herz für sein Wort und ein Wort für Euer Herz!
Liebe Schwestern und Brüder,Großartige Friedensbilder, die mein Herz aufgehen lassen und meine Stimmung aufhellen, gerade angesichts der brandgefährlichen Situation, die wir gerade mit der Ukraine und Russland erleben. Gerade angesichts der kriegerischen Ereignisse an zu vielen Orten auf unserer Welt. Und ein paar Kapitel vorher werden diese Bilder den sehnsüchtigen Menschen, die so sehr auf die göttliche Nähe warten dann doch mit großen Worten angekündigt: Hören Sie den Predigttext vom Propheten Jesaja aus dem 54. Kapitel
7 Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.
8 Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.
9 Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.
10 Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.
Barmherzigkeit und Gnade – die großen Worte in unserem Text – ja sogar große Barmherzigkeit und ewige Gnade. Monumental stehen sie da und ich pralle an ihnen ab, solange ich sie für mich nicht klein kriege, gefüllt mit meinem Leben, gefüllt mit meinen Erfahrungen. Wir wollen große Worte fasten in dieser Predigtreihe, mit den Lücken, die dadurch entstehen, hören sich die Sätze jetzt so an:
Will ich dich sammeln.
Will ich mich deiner erbarmen.
… soll nicht von dir weichen.
In diese Lücken gehört das von Gott, durch das wir gesammelt, eingesammelt werden. In die Lücken gehört, womit Gott sich über uns erbarmt. Das von Gott, das nicht von uns weichen wird, das uns begleitet. Das, mit dem Gott sich uns liebevoll zuwendet, mit einer innigen Verbindung, so wie ich sie mir zum Beispiel zwischen Eltern und ihren Kindern wünsche.
Diese Gefühle von Eltern ermöglichen es Kindern, eigene Schritte zu gehen. Wenn Kinder noch sehr klein sind und laufen lernen, kehren sie meistens ganz regelmäßig zurück in die offenen Arme oder den behütenden Schoß von Mama oder Papa. Oder sie drehen sich einfach um und sehen: Mama, Papa bleiben für mich da, auch wenn ich immer ein Stück weiter weg gehe und sie nicht mehr direkt bei mir habe.
Und wenn die Kinder dann zur Tagesmutter oder in die KiTa kommen, braucht es dieses Lernen erst recht, übrigens nicht nur für die Kinder: Auch für mich als Mutter war das am Anfang schrecklich und ich musste mühsam lernen damit umzugehen, das schreiende Kind da zu lassen und für einige Stunden von meiner Tochter getrennt zu sein. Nicht bei jedem Misserfolg oder Streit bei ihr zu sein oder sie nach jedem Sturz in den Arm nehmen zu können. Ich habe das ganz schlecht ausgehalten und habe bevorzugt meinem Mann überlassen, unsere Tochter wegzubringen. Wir mussten lernen, dass unsere Beziehung diese Zeit der Trennung ganz gut übersteht. –
Als ich selbst noch ein Kind war, haben meine Eltern mich häufiger bei ihren Geschwistern oder bei meinen Großeltern untergebracht, wenn sie unterwegs waren. Ich erinnere mich, dass ich einerseits neugierig war und es spannend fand, für eine Zeit zu verreisen, woanders zu sein. Es roch dort anders, es gab andere Dinge zu essen und zu trinken, leckere Brezeln bei den schwäbischen Großeltern, Kakao mit ekliger Haut, guten Kuchen bei den hessischen, es gab herrliche große Gärten zum spielen und toben, nette Nachbarskinder und überhaupt das Dorfleben bei den Großeltern hatte seine besonderen Reize.
Andererseits wurde mein Herz abends fast immer schwer, in einem fremden Bett schlafen gehen – da fiel mir der andere Geruch noch einmal deutlicher auf. Wenn meine Großmutter mit mir gebetet, gesungen und Gute Nacht gesagt hatte und aus dem Zimmer ging, konnte ich oft nicht einschlafen. Ich lag wach, spürte die Unterschiede zu meinem Zuhause. Lauschte den fremden Geräuschen: das laute Ticken der Uhr, das Klopfen in der Heizung. Und über die Wände wanderten die Lichter der vorbeifahrenden Autos. Wenn es um mich herum dunkel war und ich einschlafen sollte, begann ich die Abwesenheit meiner Eltern deutlicher zu spüren. Alles, was mir zuhause gar nicht auffiel – das selbstverständliche Abendritual aus Singen, Flüstern und Gutenachtkuss – fehlte jetzt in der Dunkelheit der anderen Wohnung. Meistens fand ich dann trotzdem irgendwann in den Schlaf, schließlich waren die vertrauten Großeltern ja nebenan.
Aber manchmal gingen mir noch hundert Dinge durch den Kopf, die ich heute erlebt und meinen Eltern nicht erzählt hatte, und dann wuchs meine Unruhe und ich bekam heftiges Heimweh. Natürlich wusste ich: Die kommen wieder! auf jeden Fall – aber ich konnte es nicht fühlen. Nur dass ich von ihnen getrennt war, das fühlte ich.
Ähnlich geht es mir manchmal mit meinem Glauben: ich kann ihn dann nicht fühlen. Ich rechne zwar damit, dass Gott nah ist, – auch wenn um mich herum gerade alles ganz dunkel ist. Trotzdem, auch wenn ich seine bleibende Nähe fest im Gedankengebäude meines Glaubens verankert habe - eigentlich, manchmal spüre ich nichts, fühl mich nur wie abgetrennt. Diese Zuversicht, dass mein Leben letztlich gut gemeint ist, rutscht mir weg - ich falle aus der Geborgenheit heraus.
Der Predigttext von Jesaja sagt: dieses Gefühl stimmt. Offenbar gibt es tatsächlich Zeiten, in denen Gott mich verlässt, in denen er sein Volk verlassen hat – auch wenn es nur für einen „kleinen Augenblick“ war. Zeiten, in denen er sich verbirgt vor denen, die ihn suchen, die zu ihm gehören. Passionszeit – Leidenszeit, Zeit der Anfechtung.
Wer in den eigenen Dunkelheiten Gott nicht finden kann und ihn vermisst, wirft ihm vor: Wo bist du, ist das alles hier nur ein gigantischer Zufall, irren wir einsam im Universum herum bis unsere Zivilisation verlöscht, und in einer fernen Zukunft unsere Erde verdampft? Wo bist Du, ich merke nichts von dir, ich kann dich nicht spüren!
Ist das einer von diesen „kleinen Augenblicken“? Er fühlt sich ewig an! Hast du mich verlassen? Warum fühle ich mich völlig getrennt von dir?
Verlassen und getrennt von Gott – das macht Angst, wirkt wie eine Trennung für immer. Als wäre Gott nicht nur verborgen, sondern verschwunden. So erlebe ich es in ganz dunklen Zeiten, weil ich dann nicht mehr deuten kann, was das für Lichter sind, die da an den schwarzen Wänden um mich herum vorbeiwandern. Weil ich nicht zuhause bin in meinem Leben. Weil mir im Dunkel der Sorgen alles fremd erscheint: das unbekannte Ticken und das unheimliche Klopfen neben und hinter mir ohrenbetäubend werden wie die nächtlichen Geräusche in einem fremden Zimmer.
Mitten im Dunkel meiner Sorgen sehne ich mich dann nach der Gewissheit, auf Gott vertrauen zu können. Dann wünsche ich mir, ich wäre wieder sicher:
Die kommen wieder! Die guten, göttlichen Mächte, die mich innerlich hell und zuversichtlich machen, Gottes liebevolle Zuwendung, die mir die Augen öffnet für das, was anliegt, für das, was schön und ergreifend ist – diese lebensspendenden Kräfte kommen wieder und sind jetzt nur für einen Augenblick verborgen.
In diesen dunklen Zeiten schöpfe ich aus dem, was ich im Glauben schon gelernt habe: da sind andere, die stellvertretend für mich weiter glauben, da sind die vielen alten Texte in die ich mich reinfallen lassen, die ich mir leihen kann, solange die eigenen Worte fehlen. Da ist die Erfahrung, dass mein Glaube an Gott, mein Zutrauen ins Leben andere Sorgenzeiten schon überstanden hat. Wie das Kind, das laufen lernt, drehe ich mich dann um und sehe auf die Zeiten, in denen ich gewisser war und mich geborgen fühlte. Aus diesen Zeiten ernährt sich mein Vertrauen in Gottes Zuwendung. Aus ihnen wächst auch dann die Ahnung, dass Gottes Beziehung zu mir diese Zeit der Trennung übersteht. Auch wenn mich das Gefühl der Geborgenheit für einen Augenblick verlassen hat, auch wenn Fluten auf mich einstürzen wie auf Noahs Arche – Gott bleibt für mich da.
Dann erahne ich trotz dunkler Wolken kurz vor den ersten frischen Sonnenstrahlen schon den Regenbogen.
Barmherzigkeit und Gnade - die großen Worte zum Fasten heute.
Will ich dich sammeln.
Will ich mich deiner erbarmen.
… soll nicht von dir weichen.
In die Lücken gehört das von Gott, durch das wir gesammelt, eingesammelt werden. In die Lücken gehört, womit Gott sich über uns erbarmt. Das von Gott, das nicht von mir weichen wird, das mich begleitet. Das mich dunkle Sorgenzeiten überstehen lässt, in denen ich die Nähe Gottes kaum spüre. Das, mit dem Gott sich uns Menschen zuwendet, mit einer Innigkeit, so wie ich sie mir zwischen Eltern und ihren Kindern wünsche. –
Einer Innigkeit, die die Kinder gewiss macht: Die kommen wieder. Auch wenn sie jetzt kurz wütend sind, weil ich etwas Wertvolles kaputtgemacht habe oder weil ich sie in kindlichem Zorn beschimpft habe. Auch wenn sie jetzt gerade genervt oder gestresst sind und mit anderem beschäftigt sind als mit mir. Die kommen wieder. Die lieben mich immer noch und immer weiter.
[Vorstadt-Hölle: American Beauty]
Irgendwo in der Ferne, so nah.
Draußen vor dem Tor beginnt die Vorstadt.
Wo die Straßen breit und die Burger riesig sind.
Und alle Häuser die gleichen Vorgärten haben.
Und die Paare haben zwei Kinder und drei Autos. Die Autos putzt der Mann am Samstag.
Und die Frau die Fenster.
Das Kind fährt Bobbycar.
Die Vorstadt.
Wo alle lächeln.
Und joggen.
Danach der Höhepunkt des Tages: sich einen runterholen unter Dusche.
Draußen vor dem Tor beginnt die Vorstadt.
Alle sagen, es gehe ihnen gut. Blendend, wirklich.
Ja. Es muss.
In den Vorgärten blühen die Tulpen.
Nur der Schmerz ist leise.
Wie die Löschfunktion bei Whatsapp.
382 Nachrichten weg im Nu. 243 Kuss-Smilies fort. Ganz ohne Geräusch.
Der Schmerz macht keinen Lärm.
Es findet hinter den Vorhängen statt.
An den Tischen.
In den Betten.
Im Sprechzimmer der Ärztin und auf der Couch des Therapeuten.
Danach ist alles wie zuvor.
Nur die Augen müde vom Weinen.
Und die Stimme rau.
Nein. Gut. Blendend, wirklich.
Ja. Muss ja.
Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.
[Jemand müsste da sein1]
Jemand müsste da sein und deine Hand halten.
Müsste sagen: Schschsch. Alles wird gut.
Jemand müsste da sein.
Für dich weinen, wenn du lächelst und lügst.
Mit dir lachen, wenn du wieder und wieder den selben Fehler machst.
Müsste Honig in den Tee rühren
Und über deine müden Augen streichen.
Jemand müsste da sein an den Tagen, die so grell sind und so spitz.
Müsste da sein in den Nächten mit den Monstern unterm Bett.
Jemand müsste da sein.
Und du müsstest da sein.
Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.
[Geklaute Einkaufswägen]
Die Tasse mit dem Prinzessinnen-Aufdruck
Den Schal, der noch riecht nach Damals.
Die Kassette mit der Stimme.
Den Brief mit der Diagnose.
Das nie gebrauchte Bobbycar.
Wir haben alles mitgenommen, was sich verwandeln muss.
Haben es in geklaute Einkaufswägen gestapelt.
Alles.
Auch uns selbst.
Nehmen es mit in den Abend. Mit ins Dunkel. Mit in die Nacht.
Und den jungen Stier und den Bock vom Sündopfer, deren Blut in das Heiligtum zur Entsühnung gebracht wurde, soll man hinausschaffen vor das Lager und mit Feuer verbrennen samt Fell, Fleisch und Mist. Und der sie verbrennt, soll seine Kleider waschen und sich mit Wasser abwaschen und erst danach ins Lager kommen. (Leviticus 16,27)
[Feuer]
Draußen vor dem Lager, vor dem Tor, draußen auf irgend einem Parkplatz machen wir ein Feuer.
Die Welt ist ein Gemälde.
Dunkler Baum vor dunklem Himmel.
Dunkle Lagerhalle vor dunklem Feld.
Nur die Tankstelle am Horizont leuchtet.
Als sei Aral der Name eines fernen Planeten.
Wir werfen alles ins Feuer, was sich verwandeln soll. Alles, was wir nicht mehr ertragen.
Der Rauch brennt in den Augen. Am Morgen ist nur noch Asche da.
Und der Ruß an der Hand.
Und der Geruch nach geschmolzenem Plastik in den Haaren.
Und wir.
Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
[Am Morgen danach]
Am Morgen wollen wir nicht zurück in unsere Häuser.
Wir stochern in der noch warmen Asche.
Gehören dazu und gehören doch nicht dazu.
Sind drin und sind draußen.
Wir sind wirklich.
An der Tankstelle waschen wir uns.
Dann gehen wir Richtung Sonne.
Um uns ist ein Glanz.
Wir suchen den Ort, an dem wir bleiben können.
Suchen nach der zukünftigen Stadt.
Sie liegt vor den Toren der alten.
Jemand geht mit uns.
Jemand sagt: Ich bin‘s. Fürchtet euch nicht.
Amen.
Ewiger vom Garten Eden, Gott in der Stadt, Christus auf Erden, Vater im Himmel!
Wunderlich sind deine Wege, wunderbar ist ihr Ziel. Draußen vor dem Tor war dein Ende. Da machst du mit uns einen Anfang.
Erhöre unsere Bitten!
Wir bitten dich für die Menschen in der Vorstadt. Segne den Nachbarn, der immer den Rasen mäht. Segne den Nachbarn, der immer sein Auto wäscht.
Höre den stillen Schmerz der netten Frauen, die immer „super“ sagen. Vernimm die Verzweiflung der Männer, die immer „Muss ja“ sagen.
Wir bitten dich für die Menschen in der Innenstadt. Segne die Flaschensammler und Motzverkäufer, segne die Polizisten und die Sanitäter, segne die Müllmänner und die Putzfrauen.
Höre den schrillen Schmerz derer, die haushohe Wände anbrüllen. Vernimm die Verzweiflung derer, die sagen: „Ick kann nich mehr“.
Wir bitten dich für die Seelenverkümmerten in den Heimen, segne auch die Geistverlassenen in den Residenzen.
Höre auf die Gebete der Kranken, die Rufe der Sterbenden erhöre.
Und in diesen Tagen, Herr, führe uns alle raus aus der Stadt, führe uns draußen vor das Tor, wo wir das Feuer machen und alles reinwerfen, was uns festhält und alles verbrennen, was uns hindert, zu dir zu kommen und zu uns.
Gott, verwandle uns in den drei Tagen deiner Vollendung, am Abend nimm uns mit in deinen Tod, am frühen Morgen nimm uns mit in das neue Leben. Dann grüße uns mit einem „Fürchte dich nicht!“ und dann geh mit in einem neuen Licht.
Unser Vater…
[vor der Predigt:]
Gott, schaffe mir Recht
und führe meine Sache wider das unheilige Volk
und errette mich von den falschen und bösen Leuten!
Denn du bist der Gott meiner Stärke:
Warum hast du mich verstoßen?
Warum muss ich so traurig gehen,
wenn mein Feind mich dränget?
Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten
und bringen zu deinem heiligen Berg und zu deiner Wohnung,
dass ich hineingehe zum Altar Gottes,
zu dem Gott, der meine Freude und Wonne ist,
und dir, Gott, auf der Harfe danke, mein Gott.
Was betrübst du dich, meine Seele,
und bist so unruhig in mir?
Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken,
dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.
Gott, ich bin hereingekommen in dieses Haus. Ist das deine Wohnung?
Ein Licht hat mich gelockt, eine Wahrheit mich geleitet. War es dein Licht, war es deine Wahrheit? Es gibt so viel davon, hier in dieser Stadt.
Ach Gott, hilf mir, dann weiß ich es.
Hilf mir, ach Gott, dann will ich dir danken.
Hilf meinem Angesicht, wenn ich den Kopf hängen lasse!
Mach mich stark, wenn die falschen Leute kommen.
Und mach mich schwach, wenn der Richtige kommt. Der, der für mich sprechen wird, wenn ich kleinlaut bin, weil ich wieder und wieder denselben Fehler mache. Amen.
„Wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist. Und er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt.“ (1. Johannesbrief 2,1-2)
[Gebete von Jürgen Kaiser]
1 Darum auch wir: Weil wir eine solche WOLKE VON ZEUGEN um uns haben, lasst uns ABLEGEN ALLES, WAS UNS BESCHWERT, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und lasst uns LAUFEN mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist,
2 und AUFSEHEN zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes.
3 GEDENKT an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.
FINALE
Andante leggiero
Ich will laufen, leicht laufen. Ich lege das Schwere ab. Die hohen Winterschuhe in den Keller, den schweren Mantel in den Schrank. Draußen vor das Tor leg ich das schlechte Gewissen und die Sorgen schieß ich in den Himmel.
Ich will laufen, leicht laufen. Auch wenn mein Leben ein Kampf ist. Ich will nicht mehr kämpfen. Ich will die Waffen ablegen. Kann nicht ein andere für mich eintreten? Kann nicht ein anderer für mich kämpfen?
Ich will laufen, leicht laufen. Federleicht wie die Vögel unter dem Himmel, die nicht säen, die nicht ernten. Ohne Sorgen. Leichtfüßig zwischen Lilien in Sanssouci. Jetzt, wo der Frühling kommt.
Es ginge, meint der Text, liebe Gemeinde. Es müsste gehen, das leichte Laufen durch das Leben. Mit Aufsehen und mit Gedenken, meint der Text. Damit müsste es gehen.
Ich dreh den Kopf und seh nach oben. Ich sehe Wolken. Der Himmel ist nicht leer.
Wolke der Zeugen. Wolken der letzten Wochen. Die Texte und die Begegnungen der letzten Wochen konfrontierten mich mit Lebensläufen. Ich sah Menschen, die schwer liefen. Sie waren belastet. Sie bleiben stehen, sie sahen auf, sie wurden erleichtert. Ohne dass es großer Worte bedurft hätte.
Wolke der Zeugen: Laufen, Aufsehen, Gedenken.
Vor 5 Wochen, am 9. März 2014, hörte ich hier von einer, die einen unheilbaren Tumor hat. Sie kämpfte mit Jakobus und seinen unpassenden Sprüchen. Doch Jakobus zwang sie aufzusehen. Da wurde sie der Unabänderlichkeit des großen Ganzen gewahr. Das beruhigte sie. An der Kirchentür sagten viele „Danke“.
Wolke der Zeugen: Laufen, Aufsehen, Gedenken.
Vor 4 Wochen, am 16. März 2014, sah ich Abraham vor seinem Zelt stehen. Er holte tief Luft. Sarah war gerade gestorben. Mit ihr hatte er seine Heimat verlassen. Abraham sah auf zum Himmel. Er wollte die Sterne zählen. Er suchte Trost in der Zahl seiner Nachkommen. Aber es gelang nicht. Die Tränen verwischten ihm die Sterne. Als die Tränen getrocknet waren, dämmerte es und die Sterne verschwanden. Da kam – ohne große Worte - das Vertrauen wieder und er machte sich auf, um ein Grab für seine Frau zu kaufen und eine Frau für seinen Sohn zu finden.
Wolke der Zeugen: Laufen, Aufsehen, Gedenken.
Vor 3 Wochen, am 23. März 2014, sah ich Elia unter einem Ginsterstrauch kauern. Selbstzweifel drückten ihn nieder. Ein Fastenmarsch brachte ihn auf den Berg. Ein Lufthauch, wie das Wimmern des Himmels, rief ihn ohne große Worte aus der Höhle seines Selbstmitleids und richtete ihn auf. Dann ging er seines Weges.
Wolke der Zeugen: Laufen, Aufsehen, Gedenken.
Am 28. März 2014 ging ich in ein Heim zu einem, der sterben wollte. Das Personal, die Freunde versuchten, ihn aufzumuntern. Darüber war er ganz niedergedrückt. Keiner nahm ihn ernst, klagte er. Wir beteten mit einfachen Worten: Gott nimm ihn bald zu dir. Das richtete ihn auf.
Wolke der Zeugen: Laufen, Aufsehen, Gedenken.
Am 6. April 2014 liefen wir vom Gendarmenmarkt in die Vorstadt und erschraken über ihre herausgeputzte Tristesse. Wir haben das Heimliche, das Verlogene und das Falsche in einen Einkaufswagen gelegt und sind in die Nacht hinausgezogen. Wir haben es verbrannt. Wir liefen in den Morgen. Wir sahen auf. Da ging jemand mit uns. Der sagte nur: „Fürchtet euch nicht!“
Wolke der Zeugen: Laufen, Aufsehen, Gedenken.
13. April 2014, Palmsonntag. Da kommt er in die Stadt. Auf einer Eselin. Wer ist das? Über den Palmen ziehen dunkle Wolken auf. Sie legen Kleider auf den Weg und singen Adventspsalmen. Tochter Zion, Hosianna, der da kommt im Namen des Herrn. - O Heiland reiß die Himmel auf, ihr Wolken brecht und regnet aus, den König über Jakobs Haus. O Erd, herfür dies Blümlein bring. Seht die Lilien auf dem Feld, O Heiland aus der Erden spring. Und die ganze Stadt geriet in Aufregung und man sagte: Wer ist das? (Mt 21,10)
Wer ist es, der zu Abraham kam, drei Mann hoch, als er vor dem Zelt stand? Wer ist es, der leise säuselnd zu Elia kam, als er in der Höhle kauerte? Wer ist es, der zu der Frau kam, die sterben sollte und nicht wollte, und zu dem Mann, der sterben wollte, aber nicht sollte, und sie beruhigte? Wer ist es, der zu den Vorstadtmenschen ans Feuer kam und sagt: Fürchtet euch nicht!? Und die ganze Stadt geriet in Aufregung und man sagte: Wer ist das?
Am 18. April 2014 werden wir ihn wieder aus der Stadt hinausziehen sehen, schwer gebeugt. Dann wird niemand mehr Hosianna singen „Gelobt sei, der da kommt“, einige werden sagen: „Gut, dass er geht!“ Nur wenige werden ihn vor das Tor begleiten an den Ort der Schande, wo niemand die Schädel sammelt und begräbt. Einer aber wird da sein, der Hauptmann. Denn Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Einer wird da sein, der fragt: Wer ist das? Wenn dann alle Wolken aller Zeugen den Himmel bedecken werden, dass es ganz finster wird, und die Erde beben und Elia in der Luft liegen wird (Mt 27,45-53), dann wird der Hauptmann aufsehen und sagen: „Ecce homo, dieser Mensch - war ein Gerechter!“ (Lk 23,47)
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Liebe Gemeinde, wir sind fast am Ende unserer Predigtreihe „ohne große Worte“. Eine Symphonie in mehreren Sätzen ohne Pauken und Trompeten. Meike Waechter begann mit einer tief traurigen und dramatischen Introduktion, Katrin Oxen stellte mit Abraham das Hauptthema vor und Peter Martins bearbeitete es in der Durchführung mit Elia. Ulrike Trautweins Predigt habe ich nicht gehört. Man hat mir gesagt, sie sei sehr persönlich und subjektiv gewesen. Sagen wir also, sie hatte das lyrische Adagio. Dann folgte letzte Woche ein ebenso kurzes wie keckes Scherzo von Birgit Mattausch und ich darf das Finale geben. Im Finale einer Symphonie klingen oft – so auch hier - die Themen der vorangegangenen Sätze noch einmal an. Aber ein Finale hat auch sein eigenes Thema, hier ein Dreiklang aus Laufen, Aufsehen und Gedenken, in den ich die Anklänge der vergangenen Sätze einzupassen und in teils wolkigen, teils blumigen Klangfarben zu entfalten versuchte.
Und dann kommt das Ende vom Finale, da steht in den Partituren Coda drüber. Das ist jetzt! An dieser Stelle, liebe Gemeinde, hatte ich vor, ein Fastenbrechen auszurufen, damit die Pauken und Trompeten und all die großen Worte wieder in den Saal dürfen zum laut schmetternden Finale. Aber so eine Coda darf ja kein Fremdkörper sein, darf nicht aufgesetzt wirken, sie muss zum ganzen Werk passen.
Daher wird das Werk leise enden. Ohne große Worte.
Laufen, Aufsehen, Gedenken. Was sahen sie denn alle, als sie aufsahen? Sah Abraham, als er aufsah, Gott? Sah Elia Gott? Sahen in die Vorstadtmenschen am Feuer Gott? Sah der Hauptmann Gott? Sie sahen ihn nicht. Sie sahen kaum die Sterne, sie hörten kaum ein Wort, bloß ein Säuseln, sie sahen keinen Gott, bloß einen zerschundenen Menschen. Und doch ging am Ende jeder wieder aufgerichtet seiner Wege.
Ich dachte, man könne in einer Predigt gewiss auf alle großen Worte verzichten, nur auf eines nicht: auf das Wort „Gott“. Nun bin ich aber doch ohne das Wort „Gott“ ausgekommen.
Es gibt dieses Aufsehen, diesen Blick nach oben, und du erkennst: Ich bin ein Mensch. Der vor mir, der über mir, der unter mir ist ein Mensch. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und du kannst dich wieder aufrichten, einen Schritt gehen, zwei drei und deinen Weg laufen. Erleichtert.
Das Wort Mensch steht nicht auf unserer Verbotsliste. Es ist kein großes Wort. Aber es kann sein, dass es vollkommen ausreicht – auch für die Verkündigung des Evangeliums.
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CODA
Am 20. April 2014 ist Ostern. Ich werde dann wieder in die Kirche gehen. Denn Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Du aber nimmst den Schnaps und ziehst raus aus der Stadt, lässt auch die Vorstadt hinter dir, ziehst ins Grüne, auf die frischen Auen, auf die Felder von Sanssouci, wo die Lilien stehn. Dann siehst du auf und siehst die Vögel unter dem Himmel.
Du läufst leicht. Einer hat dir das Schwere abgenommen. Er hat es auf sich geladen. Er hat es sich aufgeladen, all das Schwere, das auch wir uns gegenseitig nicht mehr abnehmen konnten. Das Unerträglich der ganzen Welt.
Siehst du die Stelle, wo er es sich aufgeladen hat. Es war so schwer, es hat die Erde zerrissen.
Und nach drei Tagen beim ersten Strahl der Sonne wuchs an der noch wunden Bruchstelle der Erde ein Blümlein. „O Heiland aus der Erden spring.“
Ich laufe leicht. Ich lege das Schwere ab. Die hohen Winterschuhe in den Keller, den schweren Mantel in den Schrank. Draußen vor das Tor leg ich das schlechte Gewissen und die Sor-gen schieß ich in den Himmel.
Ich laufe leicht. Federleicht wie die Vögel unter dem Himmel, die nicht säen, die nicht ernten. Ohne Sorgen. Leichtfüßig zwischen Lilien in Sanssouci. Jetzt, wo der Frühling kommt und die Menschen sich grüßen.
Amen.